Einheitliche Berechnungsmethode beim familienrechtlichen Unterhalt

Medienmitteilung des Bundesgerichts 09/03/2021

Urteile (5A_907/2018, 5A_311/2019, 5A_891/2018, 5A_104/2018, 5A_800/2019)

Einheitliche Berechnungsmethode beim familienrechtlichen Unterhalt

Das Bundesgericht hat wichtige Fragen zum Unterhaltsrecht geklärt und teilweise die bisherige Praxis geändert. Zur Berechnung sämtlicher Arten von Unterhalt für Kinder oder Ehegatten ist künftig nur noch eine bestimmte Methode anzuwenden. Zudem nimmt das Bundesgericht eine Praxisänderung bei der Frage vor, wann einem Ehegatten nach der Trennung oder Scheidung die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zuzumuten ist und in welchen Fällen von einer lebensprägenden Ehe auszugehen ist.

Die Pflicht zum Unterhalt besteht für Eltern gegenüber ihren gemeinsamen Kindern und bei der Trennung oder Scheidung allenfalls für einen Ehegatten gegenüber dem an- deren. Das Bundesgericht hat dazu in fünf Grundsatzurteilen seit vergangenem November wichtige Fragen geklärt und mehrere Praxisänderungen eingeleitet.

Drei Urteile (5A_311/2019, 5A_891/2018, 5A_800/2019) betreffen zunächst die Methode zur Berechnung aller Arten des Unterhalts (Barunterhalt des Kindes inkl. Betreuungs- unterhalt, ehelicher Unterhalt, Scheidungsunterhalt). Bislang überliess das Bundes- gericht die Wahl der Berechnungsmethode den kantonalen Gerichten (Methoden- pluralismus), was zu einer heterogenen Praxis in der Schweiz führte. Die unterschiedlichen Berechnungsmethoden variierten zwischen den Kantonen oder sogar innerhalb eines Kantons und wurden bei der Anwendung teilweise vermischt. Dies machte die anwaltliche Beratung schwierig, ging auf Kosten der Rechtssicherheit und konnte bei einem Kantonswechsel zu unbefriedigenden Ergebnissen führen.

Künftig ist die Höhe aller Unterhaltsleistungen anhand der sogenannten zweistufigen Methode mit Überschussverteilung zu berechnen. Dabei wird zunächst das Gesamt- einkommen der Eltern beziehungsweise der Ehegatten (gegebenenfalls auch der Kinder) ermittelt; anschliessend wird der Bedarf von allen Betroffenen festgelegt. Soweit die vorhandenen Mittel die (familienrechtlichen) Existenzminima übersteigen, ist der Überschuss nach der konkreten Situation ermessensweise zu verteilen. Bei unge- nügenden Mitteln kommt an erster Stelle der Barunterhalt für die minderjährigen Kinder, anschliessend der Betreuungsunterhalt, sodann ein allfälliger ehelicher oder nachehe- licher Unterhaltsanspruch eines Ehegatten und zuletzt der Unterhalt für volljährige Kinder. Das Bundesgericht hat in seinen Urteilen zudem weitere Details zur Anwendung der Berechnungsmethode im Einzelnen festgehalten. Mit der Vorgabe einer einheit- lichen Methode hat das Bundesgericht umgesetzt, was es vor einiger Zeit im Zusam- menhang mit der neu geschaffenen Unterhaltskategorie des Betreuungsunterhaltes und der Einführung des Schulstufenmodells angekündigt hatte (vgl. Pressemitteilung vom 28. September 2018; BGE 144 III 481).

Ausgangspunkt für die Vereinheitlichung bildete ein Fall (5A_311/2019), in welchem nach der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes die Obhut über das Kind dem Vater zugesprochen wurde. Weil er mehr verdiente als die Mutter, kamen die kantonalen Gerichte zum Schluss, dass er auch den gesamten Barunterhalt für das Kind bestreiten müsse; dass er dieses betreue, dürfe keinen Einfluss auf die Verteilung der finanziellen Lasten haben, da eine geldwerte Belohnung für die Übernahme der Erziehung des Kindes keinen Sinn mache, wenn der andere Elternteil ebenfalls wünsche, die Be- treuung übernehmen zu dürfen; abgesehen davon bedeute die Kinderbetreuung einen Zuwachs an Lebenserfahrung, die es nicht finanziell zu entschädigen gelte. Das Bun- desgericht rief in diesem Zusammenhang den Grundsatz in Erinnerung, dass Geld- unterhalt und Naturalunterhalt (Betreuungsleistung) gleichwertig sind und somit der- jenige, welcher seinen Beitrag durch die Betreuung des Kindes leistet, nicht auch noch für dessen Kosten aufzukommen hat. Von diesem Grundsatz kann allerdings ermessensweise ganz oder teilweise abgewichen werden, wenn der betreuende Eltern- teil finanziell deutlich besser gestellt ist.

In zwei weiteren Urteilen (5A_907/2018, 5A_104/2018) hat das Bundesgericht sodann verschiedene Grundsätze des Scheidungsrechts präzisiert. Zum einen hat es die soge- nannte „45er-Regel“ aufgegeben. Diese besagte, dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufs- tätig war und im Zeitpunkt der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts beziehungs- weise bei der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hatte. Neu ist stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit auszugehen, soweit eine solche Möglichkeit tat- sächlich besteht und keine Hinderungsgründe vorliegen wie namentlich die Betreuung kleiner Kinder. Massgeblich sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalles unddamit unter anderem Kriterien wie das Alter, die Gesundheit, bisherige Tätigkeiten, per- sönliche Flexibilität oder die Lage auf dem Arbeitsmarkt.

Zum anderen hat das Bundesgericht den Begriff der lebensprägenden Ehe weiterentwickelt, welche im Scheidungsfall einen Anspruch auf Beibehaltung des bis- herigen ehelichen Lebensstandards gibt. Bislang wurde eine lebensprägende Ehe bereits angenommen nach einer Dauer von zehn Jahren oder – unabhängig davon – bei einem gemeinsamen Kind. Mit dieser relativ starren Lösung ging der unerwünschte Kippeffekt einher, dass entweder von einer nur ganz kurzen Unterhaltsrente (bei nicht lebensprägender Ehe) oder aber einer prinzipiell dauerhaften Fortführung der ehelichen Lebenshaltung ausgegangen wurde (bei lebensprägender Ehe). Neu ist eine individuelle Prüfung erforderlich, ob die konkrete Ehe das Leben der Ehegatten entscheidend geprägt hat; im Fall der Bejahung ist die Dauer der Scheidungsrente vor dem Hinter- grund der konkreten Umstände des Einzelfalles zeitlich angemessen zu befristen. Nach der neuen Definition ist eine Ehe dann lebensprägend, wenn ein Ehegatte seine öko- nomische Selbständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihm deshalb nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an seiner früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen, während der andere Ehegatte sich angesichts der ehelichen Aufgabenteilung auf sein berufliches Fortkommen konzen- trieren konnte.

Kontakt: Peter Josi, Medienbeauftragter

Tel. +41 (0)21 318 91 53; Fax +41 (0)21 323 37 00 E-Mail: presse@bger.ch

Hinweis: Die Medienmitteilung dient zur Information der Öffentlichkeit und der Medien. Die verwendeten Formulierungen können vom Wortlaut des Urteils abweichen; für die Recht- sprechung ist einzig das schriftliche Urteil massgebend.

Die Urteile sind ab 09. März 2021 um 13:00 Uhr auf www.bger.ch abrufbar: Rechtsprechung > Rechtsprechung (gratis) > Weitere Urteile ab 2000 >Geben Sie die Urteilsreferenzen 5A_907/2018, 5A_311/2019, 5A_891/2018, 5A_104/2018 bzw. 5A_800/2019 ins Suchfeld ein.

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